Einführungsrede

VANITAS – Ausstellung
Kunsthalle Oktogon Hitzacker
4.6. - 15°°Uhr

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Vanitas ist ein lateinisches Wort und bedeutet: leerer Schein, Nichtigkeit, Eitelkeit, auch Vergeblichkeit, Lüge, Prahlerei.

Vanitas ist die Vorstellung von der Vergänglichkeit allen irdischen Seins. Angesichts des Todes ist das Leben nur leerer Schein, nichtig, eitel und vergeblich.

Vor ein paar Jahren stellte ich fest, dass immer wieder Vanitas-Motive in meiner bildnerischen Arbeit auftauchten, ohne dass ich die Thematik bewusst aufgenommen hätte. Ich habe keine Anfälle romantischer Todessehnsucht und hatte bis vor einiger Zeit wenig mit Tod und Sterben zu tun. Obwohl sich mittlerweile häufiger Gedanken der eigenen Endlichkeit aufdrängen.

Bei intensiverer Beschäftigung mit der Vanitas bemerke ich nun, dass die gesamte abendländische Kunstgeschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart von diesem Gedanken durchzogen ist. Ich habe offensichtlich einen großen Teil der unzähligen Vanitas-Motive gespeichert, die ich Zeit meines Lebens in den Kirchen, Klöstern und Museen Europas zu Gesicht bekommen habe. Sie sind einfach da. Vielleicht auch weil der Mensch im Grunde weiß und schon immer wußte, dass er sterblich ist und die Narrative in dieser Hinsicht immer gleich oder ähnlich bleiben. Vanitas ist in der europäischen Kulturgeschichte ein bedeutendes und komplexes Motiv und findet sich in allen Künsten: Malerei, Bildhauerei, Literatur, Theater und in der unmittelbar klingenden und verklingenden Musik. Hier soll es nur um bildende Kunst, um Malerei, gehen.

Folgt man der Kunstwissenschaft, findet das Vanitas-Thema im späten Mittelalter Eingang in die Kunstgeschichte mit dem Motiv des Totentanzes, Danse Macabre, das sich von Frankreich aus in ganz Europa verbreitet. Mein Totentanz ist kein Reigen wie auf den mittelalterlichen Darstellungen, sondern eine Polonaise, anführt von einem Narren, ein Wimmel-Bild aus dem Jahre 1994. Es verarbeitet die Erlebnisse von 2 Filmreisen in dem Jahr: eine nach Indien mit seinen Menschenmassen, die andere nach Griechenland und Italien in Kirchen, Katakomben und Beinhäuser. Jeweils beide Filme zum Thema Eros und Religion werden hier im Oktogon am 10. und 17. Juli gezeigt. In Gestalt von Abbildern wirkt das Vergängliche dauerhaft, bleibend und beherrschbar. Nach dem religiösem Verständnis des Mittelalters aber ist das trügerischer Schein, weil sich das Wesentliche, das Lebendige, nicht festhalten lässt. Nach christlicher Auffassung bleibt die Belebung ein göttliches Prinzip und Privileg, Menschenwerk ist nichts wert, seelenlos. Jede Darstellung ist zum Scheitern verurteilt, weil sie leblos bleiben muss und stumm.

„Du sollst dir kein Bildnis machen (von Gott) und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel oben, auf der Erde unten oder im Wasser und unter der Erde.“ (2. Gebot)

Die Verbindung von Monotheismus und Bilderfeindlichkeit, in der jüdischen Religion vorgeprägt, zeigt sich neben dem Islam auch im Christentum. (Was bei der heutigen Bilderflut nur noch schwer verständlich ist). Die Nichtigkeit jeder menschlichen Darstellung ist ein fundamentaler Gedanke des frühchristlichen Weltbildes. Gegen diese Vorstellung und ihren klerikalen Vollzug müssen sich die Künstler behaupten. Dies geschieht zur damaligen Zeit in der Regel durch das Eingeständnis der eigenen Nichtigkeit - sprich Demut (vor Gott und der Kirche). Der Künstler oder das Kunstwerk gestehen oder rechtfertigen durch die läuternde Botschaft der Vanitas-Motive ihre eigene Eitelkeit. Das mahnende memento mori – gedenke, dass du sterblich bist – muss immer moralisierend dabei sein, zumindest auf der Rückseite (verso). Das soll den Betrachter vor der Tücke der Illusion warnen und auf sich selbst, den Glauben und die Beschäftigung mit dem Jenseits zurückwerfen.Tatsächlich aber sind die Künstler in der Lage immer perfektere Illusionen zu schaffen. Ein Paradox treibt die kreativen Kräfte an: Je raffinierter die Illusion, desto eindrücklicher wirkt die Moral - vom Gegensatz zwischen Schein und Sein. Die Warnung: es fehlt das Lebendige, rechtfertigt den Genuss des Betrachtens.

Das ungeheure Aufblühen der Künste und besonders die Aufwertung der heidnischen Antike in der Renaissance hat zur Folge, dass der Rechtfertigungsdruck auf alle künstlerischen Bemühungen und auch die Wissenschaft immer größer wird. (Ein krasses Beispiel dafür ist Savonarolas Kunstvernichtung „Fegefeuer der Eitelkeiten“ auf der Piazza della Signoria“ in Florenz – der große Botticelli, ein Maler heidnischer Göttinnen - wirft in vorauseilendem Gehorsam einige seiner Bilder sogar eigenhändig ins Feuer). Der reformatorische Bildersturm, der gegen die ausufernde kultische Verehrung von Heiligenbildern in der katholischen Kirche gerichtet ist, verschärft diese Tendenz sogar noch. Die Entwicklung der Ölmalerei ist auch protestantischen Bilderkritikern ein Dorn im Auge. Die Zentralperspektive ermöglicht ihr täuschende Genauigkeit, was die Illusionskraft der Bildwerke immens erhöht. Es herrscht ein Konflikt zwischen Mittelalter und Moderne, zwischen menschlicher Demut (Religion, Kirche und Obrigkeit) und menschlichem Selbstbewusstsein (individuelle Entwicklung, Bildung, Forschung, menschliches Können). Im Barock erreicht dieser Zwiespalt seinen Höhepunkt: Vor dem Hintergrund grassierender Pestseuchen, der Gräuel nicht enden wollender Religionskriege und gleichzeitig bombastischer Pracht- und Machtentfaltung entstehen besonders in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts kunstreiche und bis heute bewunderte Vanitas-Darstellungen, insbesondere Stillleben. Das Stillleben-Genre ist die Paradedisziplin der Zeit. Es spiegelt am deutlichsten das Paradox, das die Vanitas-Thematik durchzieht: das Vergängliche ist dauerhaft fixiert, scheint zum Greifen nah, bleibt aber trotzdem unwirklich, eine Täuschung. Das lebendig Wirkende ist tot, der Glanz des Goldes ist Schein, das Plastische ist flach, das offensichtlich Duftende oder Stinkende riecht nicht, das Klingende klingt nicht und so weiter und so fort. Ein ungeheuer vielfältiger Kanon von Vanitas-Symbolen entsteht. Vieles davon ist heute schwer verständlich, da jedes Bild ein neues Allerlei verschiedenster Bedeutungen hervorbringt. Die Kunstwissenschaft, die über die vielfältigen Bedeutungen durchaus kontrovers diskutiert, hat den unendlichen Symbol-Kanon in 3 Gruppen eingeteilt:

Symbole des Todes und der Vergänglichkeit sind häufig: Totenschädel, Skelette, Spiegel, Masken, Narren, Uhren, Schnecken-und Muschelgehäuse. Blumen und blühendes Gezweig stehen für Vitalität und Lebenskraft, sind jedoch zum Verwelken verurteilt. Schnittblumen sind dem Tod geweiht. Um den Aspekt der Vergänglichkeit zu betonen, werden welke und aufblühende Blumen zusammen arrangiert und dargestellt. Neben der allgemeinen Bedeutung gilt natürlich noch die besondere Symbolik der einzelnen Pflanzen und Blumen z.B. Tulpen: In den Monaten um den Jahreswechsel 1636/37 erleben Tulpen in Holland einen unglaublichen Boom. Im Zuge einer aberwitzigen Tulpenmanie werden viele Hasardeure mit dem Handel von Zwiebeln reich. Noch mehr verlieren durch Fehlspekulation Hab und Gut. Deshalb steht die Tulpe – zumindest bei niederländischen Stillleben dieser Zeit – auch für Leichtsinn, Verantwortungslosigkeit und unvernünftigen Umgang mit der Gottesgabe Geld.

Das Motiv Der Tod und das Mädchen wird neben der mahnenden Botschaft zu einem äußerst beliebten Vorwand für erotische Darstellungen.

Symbole der irdischen Existenz sind vor allem Luxusgüter, Insignien der Macht, Kronen, Harnische, Helme, Dinge des Zeitvertreibs, aber auch Haushaltsgegenstände und Nahrungsmittel jeder Art. Oft haben die Symbole Doppelbedeutungen. Der Krug z. B. kann das Laster der Trunksucht symbolisieren, er kann aber auch Sinnbild gefährdeter Jungfräulichkeit sein.

Ein positives Symbol aus der 3. Gruppe: Auferstehung und Überwindung des Todes - ist das Salz. Salz ist ebenso lebensnotwendig, wie Christus heilsnotwendig. Deshalb ist Salz ein Symbol für Christus. Das Ei trägt Leben in sich; es ist ein Symbol der Auferstehung. Die Erbse versinnbildlicht wegen der Zartheit ihrer Blüte und der in der Hülse schützend geborgenen Frucht die jungfräuliche Empfängnis Christi.

Die Zeitgenossen verstehen diese Analogien. Auch wenn sie größtenteils Analphabeten sind, Bilder können sie lesen. Es kommt zunehmend zur Auflehnung gegen die kirchliche Doktrin des unweigerlichen Scheiterns, auch wenn der Mensch den Tod bis heute nicht überwunden hat (und hoffentlich niemals überwinden wird).

Schon in Gemälden um die Jahrhundertwende (17. auf 18. Jhdt.) erscheint der Totenschädel als Attribut und sinnvolles Studienobjekt für den Arzt oder Wissenschaftler statt als Mahnmal. Im späten 18. Jahrhundert, im Zuge des medizinischen und naturwissenschaftlichen Fortschritts, werden viele Vanitas-Motive vom Nichtigen und Vergänglichen zum Bedeutenden und Bleibenden erklärt wie Musikinstrumente und Noten, Bücher, Kalender, Landkarten, Antikes, Antiquitäten (u.v.a.). Die Musik wandelt sich vom Symbol des im Nu Verklingenden zu einem Symbol der „klassischen“ Beständigkeit. Klassik: ein gewaltiges Repertoire von Kompositionen entsteht. Bildung und die Kraft der menschlichen Imagination, die Paracelsus noch für die Pest verantwortlich machte, bekommen einen immer höheren Stellenwert.

„Dass der Mensch aufgrund seines Wesens schlecht und verdorben sei, wollte den Aufklärern nicht mehr über die Lippen.“ Die Rechtfertigung des Urhebers für die Eitelkeit seines Werks gehört nicht mehr zum guten Ton. Kunst verliert den Makel grundsätzlicher Täuschung, sie kann auch Offenbarung sein. Demut nimmt zunehmend ab, selbst das Göttliche erscheint dem Menschen machbar. (Rousseaus Pygmalion: Bildhauer belebt mit Schöpferkraft und Liebe tote Materie. - Wagners Götterdämmerung)

Die Vanitas mit ihrer über dreihundert Jahre lang lastenden Negativ-Symbolik wird nicht mehr ernst genommen, was als Befreiung von kirchlicher und weltlicher Bevormundung verstanden wird. In der Horrorliteratur, in entsprechenden Illustrationen oder dem Schauerroman des 19. Jahrhunderts ist der religiöse Hintergrund der Vanitas-Motive nicht mehr vorhanden.

Heute ist Vanitas zum Pop-Thema im Himmel des totalen Amüsierbetriebs geworden. Das weltweite Halloween-Spektakel, das explicit mit Vanitas-Attributen spielt, ist ein Riesengeschäft. Die tröstende religiöse Heilsgewissheit ist weggefallen, das Fehlen des Lebendigen, des Dargestellten, wird nicht mehr als Problem empfunden, wenn man die Darstellung für gelungen hält. Bei einem im Museum ausgestellten Heiligenbild ist man nicht unglücklich darüber, dass der Heilige seine Autorität in dieser Institution nicht mehr entfaltet, weil es hier auf den Künstler und sein Können ankommt.

Das populäre Katastrophenszenario feiert den „Triumph über das Scheitern“. Katastrophenfilme sind zumeist so aufwendig und trickreich gemacht, dass man die Inhalte, das fürchterliche Unglück dahinter, getrost vergessen kann. Die Filme dienen ausschließlich der Schau- und Sensationslust. Die Faszination im Zusammenhang mit der Frage: „Wie ist es gemacht?“ lenkt von der Thematik des Scheiterns ab.

Ein Wille zur Überwindung der Vanitas zeigen neben Konstruktionen einer virtuellen Welt die optimistischen Konzeptionen der Künstlichen Intelligenz in der Gegenwart. Die notwendig „treue“ Abhängigkeit der Maschinen befördert hier – vielleicht als willkommener Ersatz für unwillige und widerborstige, menschliche Arbeitskräfte - die Illusion ihres Lebendig-Werdens oder Seins.

Es gibt aber auch eine gegenläufige Tendenz. Beherrschung und Kontrolle sind moderne Versprechen, die für die Menschen der frühen Neuzeit noch nicht galten. Da herrschten Angst und Unsicherheit. Nun unterminieren weltweite Naturkatastrophen, globale Kriege und Krisen, tödliche Krankheiten wie Aids und Krebs oder die grassierende Corona-Pandemie aber diese vermeintliche Sicherheit, die die zeitgenössische, technologische Omnipotenz vorgibt. Auch wenn man brav vor dem Fernseher sitzen bleibt, bleiben die Katastrophen nicht mehr draußen. Ein Gefühl anonymer Gefährdung hat die eigene Endlichkeit wieder stark ins Bewusstsein gerückt. Vanitas vanitatum, omnia vanitas! – ist wieder aktuell.